62 | reichtum w i e w a h r : s o b a n a l d e r r e i c h t u m i n u n s i e g t l hier ist nun womöglich der moment gekommen, an dem wir auf die eingangsfrage zurückkommen sollten: wie reich sind wir wirklich? die schlichte antwort: un- ermesslich. denn es geht hier wie erwartet nicht um materielle werte, sondern um unsere fähigkeit zu denken, zu fühlen, zu handeln. das klingt banal? ist es vielleicht sogar. deshalb ist es aber nicht weniger wahr. wie sagte schon der kleine prinz: nur mit dem herzen sehen wir gut. denn es lässt sich nicht von äußerlichkeiten blenden. wenn wir sagen, jemand habe „ein gutes herz“ oder „das herz am rech- ten fleck“, dann meinen wir nicht, dass er körperlich ge- sund ist. wir meinen, dass er aufrichtig ist, mitfühlend, integer, besonnen, wohlwollend. er stellt seine bedürf- nisse nicht über die anderer, kann zuhören, vermitteln, verzeihen. und all das ist es, was wahre größe – oder anders gesagt: inneren reichtum – ausmacht. von solchen menschen brauchen wir mehr, sie sind die vorbilder, die es uns und unseren kindern ermöglichen, den richtigen weg – oder einen der vielen richtigen wege – zu erkennen. doch woher sollen wir sie nehmen, sie wachsen ja leider nicht auf bäumen. dafür gibt es nur eine lösung: wir müssen selbst zu vorbildern werden. das geht. vielleicht nicht von heute auf morgen, aber es geht. wir müssen lernen, unsere stärken zu schätzen und unsere schwächen anzuerkennen (und nicht zu überspielen). wir müssen aufhören, uns für unsere gefühle zu schä- men oder sie zu unterdrücken und anfangen, sie ange- messen zu äußern. wir müssen uns für andere öffnen, ihnen zuhören, ihre sorgen ernst nehmen. wir müssen unsere positionen klar und deutlich formulieren, ohne unsere mitmenschen vor den kopf zu stoßen. wir müssen auch im konfliktfall im gespräch bleiben, dem anderen deutlich machen, dass er als mensch wertgeschätzt wird, auch wenn seine haltung oder seine handlung uns nicht gefällt. und wir müssen anerkennen, dass alle men- schen gleichwertig sind, ausnahmslos. dass jeder dasselbe recht auf eine friedliche existenz hat – aber nicht jeder das glück, in eine freie und wohlhaben- de gesellschaft wie unsere geboren worden zu sein. wofür wir auch einfach mal dankbar sein dürfen. und gerade weil die welt immer komplexer zu werden scheint, niemand mehr alles überblicken kann, keiner mehr die generelle heilslösung bringen kann und wir auf viele geschehnisse in der welt keinen einfluss neh- men können, gerade deshalb müssen wir es im kleinen tun. dort wo wir leben, handeln, denken, dort wo wir sind. jeder von uns ist umgeben von menschen, mit denen er wechselwirkt. wie er das tut, aus welcher haltung heraus und mit welcher intention, das entscheidet er selbst! text: kathrin bertram diese autoren und ihre bücher gaben wichtige denkanstöße für den vorliegenden text. vielen dank dafür! carolin emcke: gegen den hass; erich fromm: haben oder sein; axel hacke: über den anstand in schwierigen zeiten und die frage, wie wir miteinander umgehen; daniel kahnemann: schnelles denken, langsames denken; peer martin: was kann einer schon tun?; heribert prantl: was ein einzelner vermag; ferdinand von schirach, alexander kluge: die herzlichkeit der vernunft; elisabeth wehling: politisches framing voelmys wohnen ist ansichtssache